#Writing Friday – Und täglich grüßt das Murmeltier

Und täglich grüßt das Murmeltier

Die Zeit verliert an Bedeutung, sagen sie. Ihr Fluss einförmig grau, wenn sich kein Tag mehr von dem anderen unterscheidet. Keine Routine, allenfalls Rituale – der kümmerliche Rest eines geregelten Lebens. Und doch bloß in den Tag hinein leben. Bis zur nächsten Mahlzeit. Zum nächsten Schlafplatz.

Täglich grüßt das Murmeltier.

Was mich hier Tag ein, Tag aus begrüßt, sind leider keine Murmeltiere. Es ist Hunger, der dein Inneres zerfrisst. Kälte, die dir bis auf die Knochen, ins Herz dringt. Und damit meine ich nicht die Witterung. Es sind die Reaktionen der Menschen, die mir entgegenschlagen. Frostiger als der sibirische Winter je sein könnte.

Die Stadt erwacht allmählich zum Leben. Dunkel blicken mir die Schaufenster von Klamottenläden und Juwelieren entgegen. Mein Spiegelbild schlurft neben mir her über die gläsernen Fassaden. Meine Mundwinkel zucken zu einem Lächeln. Mag es auch ein bitteres sein – vielleicht ist es das einzige, das ich heute zu Gesicht bekomme.

Auf meiner zerschlissenen Decke mache ich es mir gemütlich, das Pappschild, das sich an den Rändern wellt, und einen leeren Becher neben mir. Glockenschläge rollen über die Dächer hinweg. Als wäre dies das Zeichen, flammt die Beleuchtung in den Läden auf.

Jeden Tag sehe ich so viele Menschen. Sie strömen an mir vorbei, bis ihre Gesichter zu einer einheitlichen Masse verschmelzen. Manchmal brechen einzelne von ihnen durch die unsichtbare Barriere aus Ignoranz, die mich von ihnen, von den anderen trennt. Meistens aber eilen sie mit Scheuklappen weiter, bemüht, bloß keine Notiz von mir zu nehmen. Nicht, dass sich aus Versehen noch ihr Gewissen regt.

Da ist diese Frau, die jeden Tag mit ihrem Pudel an mir vorbeikommt. Verkniffene, leuchtend rot geschminkte Lippen. Strenger Blick. Ihr Parfüm weht ihr voran, noch bevor ich sie sehen kann. Neugierig schnüffelt der Pudel an meiner Decke. Sie zerrt ihn fort, als ich sie höflich grüße. Sie murmelt ihr „Guten Tag“ und eilt weiter. Ihr Tonfall klingt beinahe schuldig.

Sie weiß es. Weiß, dass ebenso gut sie, ihr Mann oder ihr Sohn hier sitzen könnte. Auf der Straße. Angewiesen auf etwas Kleingeld, Menschlichkeit und Mitgefühl. Und dieser Gedanke macht ihr Angst. Sie erträgt meinen Anblick nicht, der ihr wie ein unheilvolles Omen erscheinen muss. Eine düstere Vision einer Zukunft, die sie um jeden Preis vermeiden will.

Ein Mann schaut auf sein Smartphone. Maßanzug. Lederschuhe. Der Aktenkoffer in seiner Hand passt zu der wichtigen Miene, die er zur Schau stellt.

Er weiß es nicht. Er glaubt sich gewappnet gegen die Unwägbarkeiten des Lebens. Sein Blick streift mich. Ein Ausdruck huscht über seine Züge, der mir allzu vertraut ist. Verachtung. Unverständnis. Vorurteile. Rasch eilt er weiter, steuert auf die andere Straßenseite. Bloß weg von mir. Als ob ich ihn anstecken könnte, wenn er mir zu nahe käme. Ihn Anstecken mit … Womit eigentlich? Mit meinem Versagerleben?

Schlüssel klimpern, als er sich rasch an der Tür einer Anwaltskanzlei zu schaffen macht, die sich unscheinbar zwischen zwei Läden schmiegt. He walks on, doesn‘ t look back …

Eine junge Frau kommt aus der Bäckerei, aus der es köstlich nach frisch Gebackenem duftet. Einen Coffe to Go in der einen Hand, zählt sie mit der anderen ihr Kleingeld nach. Sie scheint es eilig zu haben. Ein in Papier eingeschlagener Keilrahmen klemmt unter ihrem Arm. Ein Projekt für die Kunstakademie? Sie ist beinahe schon abgebogen, als sie zurückkommt. Klirrend fällt ihr Wechselgeld in meinen Becher. Ein aufmunterndes Lächeln strahlt mir unter ihren geröteten Wangen entgegen, als ich mein Schild hochhalte.

Du bist wundervoll.

 


Der #Writing Friday ist eine Aktion von  Elizzy von read books and fall in love. Jeden Freitag veröffentlichen einige Blogger*innen, die das Schreiben genau so lieben wie das Lesen,  einen kurzen Text. Egal ob Geschichte oder Gedicht, erfunden oder mit persönlichem Bezug – Hauptsache kreativ. 

Mein Schreibaufgabe heute: Du lebst als Obdachloser auf der Straße. Beschreibe deinen Blick auf die Menschen, die vorbeigehen.

Wenn ihr selbst noch nach Themen sucht, über die ihr schreiben könnt, oder einfach ein bisschen schmökern wollt, dann schaut doch mal bei Elizzy vorbei. Dort findet ihr eine Übersicht aller Teilnehmer, über die Regeln des #Writing Friday sowie die aktuellen Schreibthemen.  Die anderen würden sich sicher freuen, wenn ihr ihren lesenswerten Blogs einen Besuch abstattet. :)

Meinen letzten Beitrag zum #Writing Friday – eine Postkarte von der Frankfurter Buchmesse der Zukunft – findet ihr * hier *.

 

13 Gedanken zu “#Writing Friday – Und täglich grüßt das Murmeltier

  1. Pingback: #Writing Friday – Perlweiß | Welt aus Tinte und Papier

  2. Da hast du Recht – man hetzt immer dem Geld und der Zeit nach und übersieht dass es wichtigeres gibt – so ist der Alltag. Leider :-)

  3. Liebe Janika,
    mich macht es wirklich glücklich, dass dir meine Art zu schreiben so gut gefällt. Deine Zeilen gehen runter wie Öl. :) Was die Sache mit dem Buch angeht … ich arbeite tatsächlich an einem. :)
    Ganz liebe Grüße,
    Anna

  4. Liebe Gabriela,
    ich muss zugeben, dass ich mich bei diesem Text von einem Obdachlosen habe inspirieren lassen, dem ich ab und zu in der Stadt begegne. Er hat tatsächlich so ein Schild, auf dem genau das steht – und er scheint immer so positiv, trotz seiner Situation. Das hat mich beeindruckt.

    Liebe Grüße,
    Anna

  5. Oh ist das schön geschrieben, besonders der Schluss ist herzzerreißend. Das auf den Pappschild „Du bist wunderbar“ steht, ist eine tolle Idee.

    Liebe Grüße
    Suse ☺️

  6. Das Schild ist eine tolle Idee. Ich habe auch letzt überlegt – wie schnell man eigentlich Obdachlos werden kann. Die finanziellen Situationen werden schwieriger. Was ist wenn du dein Haus nicht mehr bezahlen kannst – du landest auf der Strasse – und dann. Wirklich schön emotional.

  7. Liebe Anna,
    dein Text lässt mich sprachlos zurück. Hast du schon mal darüber nachgedacht, ein Buch zu schreiben? Dein Text ist so stimmungsgeladen und so poetisch. Ich liebe deine Art zu schreiben. Richtig, richtig schön und emotional.
    Liebe Grüße,
    Janika

  8. Liebe Anna,
    Wow! Deine Geschichte hat mir eine Gänsehaut bereitet, die von den Haarspitzen bis zu meinen Zehen hinunter reicht! Die von dir beschriebene Atmosphäre kommt einem so schmerzlich bekannt vor, man kann sich ihrem Bann gar nicht entziehen. Das Ende war SO schön, es gibt Hoffnung auf das Gute im Menschen, darauf, dass es noch Empathie gibt und Mitgefühl. Vielen, vielen Dank für diesen Beitrag, der mir wahnsinnig zu Herzen gegangen ist. <3
    Liebste Grüße,
    Ida

  9. Ach, so eine schöne Idee mit diesem Schild! Hat mich wirklich berührt, deine Geschichte über den Obdachlosen. Und mich daran erinnert, wie sehr man diesen dahinhetzenden Menschen selbst auch gleicht. Wirklich gut geschrieben!

    Liebste Grüße!
    Gabriela

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